Was
wissen Europäer kulturell von Afrika?
[i]
Jacob
Emmanuel Mabe 1.
Einführung Die
negative Einstellung vieler Europäer gegenüber anderen Kulturen hat
sich bis heute kaum geändert. Besonders beklagenswert ist ihr weiterhin
infam menschenverachtender Umgang mit afrikanischen Denk- und Lebensstilen.
Selbst manch hoch gebildete Europäer betrachten Afrika unentwegt als
fremde, kulturell unbedeutende Welt und können sich daher keine Vorstellungen
von dem konkreten Leben der dort lebenden Menschen machen. Doch von
ihrer finanziellen und wissenschaftlichen Infrastruktur her wären die
Europäer wohl in der Lage, sich mit afrikanischen Geisteskulturen angemessen
auseinander zu setzen, werden aber durch ihr selektives, überwiegend
durch Klischees und Stereotype geprägtes Bild von diesem Erdteil gehindert.
Zudem
wird das mit Vorurteilen behaftete Bild von Afrika als Inkarnation apokalyptischer
Krisen, Katastrophen, Misere etc.
[ii]
öfters den Journalisten, Geschäftstreibenden und
Wissenschaftlern zu Recht, wegen ihrer zum Teil überzogenen Falschmeldungen,
angelastet. Man scheint bei dieser restriktiven Anschuldigung allerdings
zu übersehen, dass gerade die sich als unwahr erweisenden Berichte meist
weitgehend den Informationserwartungen und Doch
statt sich energisch für die kulturelle Annäherung zwischen den beiden
Kontinenten einzusetzen, um dadurch gegenseitiges Vertrauen zu gewinnen,
beharren die Europäer vielmehr bei einer Entwicklungspolitik, die wegen
der für Afrika kulturell unergiebigen Prestigeprojekte die Afrikaner
eher erzürnt. Sie sollten endlich begreifen, dass diese heimtückische
Politik keineswegs zur Wiedergutmachung der in der Vergangenheit verübten
Verbrechen beitragen kann. Im Gegenteil, je mehr die so genannte Entwicklungspolitik
hinter den von den Europäern selbst mit ihr verknüpften Erwartungen
bleiben wird, desto größer wird ihr schlechtes Gewissen sein, umso aggressiver
sowie extrem pharisäischer werden sie auftreten. Abgesehen davon ist
es unanständig, Entwicklungspolitik weiter als Einschüchterungsideologie
zu benutzen und den Opfern der europäischen Barbarei in Afrika stets
das Gefühl zu vermitteln, die Entwicklung ihres Kontinents hänge nicht
von ihnen selbst, sondern von der Gnade das Westens ab. Insbesondere
Europa sollte sich nicht ewig als Messias aufspielen, der Afrika im
Namen der Menschlichkeit zu erlösen habe, sondern endlich Konsequenz
aus seiner bisherigen Afrikapolitik ziehen. Die Europäer wären deshalb
gut beraten, rückhaltlose Selbstkritik
[iii]
zu üben, statt sich übermäßigem Selbstmitleid hinzugeben,
das jedoch nicht in Selbsthass, sondern in perverse Abneigung gegen
sämtliche unschuldige Opfer ihrer Geschichte umschlägt. Unter Selbstkritik
ist allerdings nicht das bloße Moralisieren mittels ethischer ‚Vorzeigetheorien’
der Kommunikation zu verstehen. Man erwartet dabei vielmehr konsistente
Überlegungen, die zunächst den Europäern selbst zu einer resoluten Emanzipation
vom eurozentrischen Geist hin zu einem lebendigen Dialog zwecks Verständigung
mit Afrikanern verhelfen können.
[iv]
Das
hier bezeichnete Selbstmitleid hängt indes u.a. mit dem sehr schmerzenden
und bedrückenden Wissen vieler Europäer vom Sklavenhandel und Kolonialismus
zusammen, das sie dazu bringt, sich stets hypokritisch jeglicher geistigen
Berührung mit Afrikanern zu entziehen. Gerade vor dem Hintergrund des
Selbstmitleides wird das ambivalente Verhältnis mancher Europäer zu
ihrer Zivilisation offensichtlich.
[v]
Einerseits geben sie sich eingedenk ihrer historischen
Errungenschaften in Technik und Wissenschaft sehr stolz (zumindest nach
außen). Andererseits aber werden sie ihr inneres Leiden in permanentem
Andenken an die in und von Europa aus verübten Verbrechen gegen die
Menschlichkeit kaum los. Aufgrund dieses historisch-psychologischen
Faktors können manche Europäer kein wertbeständiges Selbstvertrauen
aufbauen, geschweige denn dauerhaft zufrieden wirken, obwohl sie alles
zu besitzen scheinen, was der Mensch für die Befriedigung seiner materiellen
Bedürfnisse benötigt. Oft
manifestieren die Europäer ihre Unzufriedenheit entweder psychologisch
durch Verachtung der kulturellen Werte anderer Völker oder politisch
durch technische sowie finanzielle Maßnahmen, die andere Länder in schwer
lösbare Krisen stürzen. Wenngleich das lästige Wissen um die Vergangenheit
den Konflikt der Europäer mit ihrer Identität erklärt, genügt das jedoch
nicht als stichhaltiges Argument, um ihre oft exzentrisch schamlosen
Attitüden gegenüber anderen Völkern zu rechtfertigen.
[vi]
Damit ist insbesondere die prinzipielle Neigung zur
Geringschätzung afrikanischer Lebenswelten selbst seitens mancher Großgelehrten
der Gegenwart gemeint, die sich aus Prinzip weigern, universalistische
Kategorien wie die der Philosophie, Wissenschaft, Kultur und Religion
auch auf Afrika auszuweiten oder adäquat anzuwenden. Dieser
Artikel ist keineswegs der Präsentation der afrikanischen Kulturen gewidmet.
Sein Ziel besteht vielmehr in der Erörterung der Frage nach der Verantwortung
der intellektuellen Eliten nicht nur Europas, sondern auch Afrikas für
das allgemein miese Image von Afrika in der Welt. Er beginnt mit einer
philosophischen Klärung des Kulturbegriffs und fragt im Anschluss daran
an das Wesen des Kulturellen in Afrika. Die Untersuchung endet mit einer
detaillierten Kategorisierung der Intellektuellen in beiden Kontinenten.
2.
Kultur als Lebensform Der
Begriff ‚Kultur’ wird in den Geistes- und Kulturwissenschaften relativistisch
thematisiert. Doch seine Bedeutung wird fast immer vom gesellschaftlichen
und technischen Fortschritt abhängig gemacht, indem man die schöpferischen
Leistungen der Menschen auf einzelne wirtschaftliche Kriterien reduziert
sowie am technologischen Niveau ihrer jeweiligen Länder misst. Kultur
bedeutet indes mehr als technische Produktivität und umfasst somit sämtliche
intellektuellen und körperlichen Tätigkeiten, mit denen die Menschen
ihre Freiheit im Denken und Handeln, d.h. in konkreten Aktionen sowie
in abstrakten Ideen, manifestieren.
[vii]
In diesem Sinne bezeichnet ‚Kultur’ alle von Menschen
hervorgebrachten materiellen und geistigen Werte, die für die weitere
Entwicklung der Gesellschaft, Wirtschaft, Technik und Kunst sowie für
die individuelle Selbstentfaltung des Menschen bestimmend sind. Werte
sind ihrerseits moralische, ethische und metaphysische Qualitäten und
stellen somit die wesentlichen Konstituenten der Kultur dar. Im folgenden
werden drei Kategorien von Werten unterschieden: - Die problematischen
Werte. Es handelt sich dabei um Urteile und Einstellungen, die aus subjektiven
Meinungen entstehen, die meist von bestimmten Autoritätspersonen ausgehen
und zu Handlungen und Vorstellungen der gesamten Gesellschaft erklärt
werden. Das Problematische resultiert aus dem Versuch, dominante Einbildungen
zu verobjektivieren oder für eine komplexe Gesellschaft repräsentativ
zu machen. - Die konformistischen
Werte. Es sind Werte, über deren Entstehung von den Menschen selten
nachgedacht, sondern die als heiliges und untadeliges Überlieferungserbe
schlechthin angenommen werden. Dazu gehören tradierte Institutionen
wie Familienbindungen, Verwandtschaftstreue, Heimatverbundenheit, Vaterlandsliebe,
soziale Hierarchien etc., insofern sie unhinterfragt gepflegt und von
Generation zu Generation kritiklos weitergegeben werden.
- Die probativen
Werte. Sie werden von allen Gesellschaftsmitgliedern gebilligt und als
allgemeine Urteilskriterien oder Handlungsmuster einstimmig angenommen.
Ihnen liegen Prinzipien zugrunde, die aus der Vielfalt der praktischen
Lebenserfahrung heraus auf ethische, logische, moralische oder metaphysische
Ideen abstrahiert werden, die für das weitere Leben der Menschen bestimmend
sein sollen. Sie verdanken ihre Entstehung zudem dem Bewusstwerden der
Menschen, dass sie nicht mehr nur nach tradierten Verhältnismäßigkeiten,
Gesetzmäßigkeiten und Regelmäßigkeiten zu handeln oder nur in alten
Kategorien und Normen zu denken haben, sondern dass sie zum selbständigen
sowie eigenverantwortlichen Leben in ihrer Zeit verdammt sind. Aus diesem
Bewusstsein heraus versuchen die Menschen Werte wie Menschenrechte,
Freiheit, Frieden, Sicherheit, Wohlsein, Naturschutz, Demokratie, Arbeit
etc., dem Wandlungs- und Transformationsprozess ihrer Gesellschaft und
Kultur zu unterwerfen und an die Bedingungen ihres jeweiligen Zeitalters
anzupassen. Probative Werte bestimmen daher nicht nur die Maßstäbe für
die ethisch-moralischen Einstellungen sowie für das weltweite rationale
Streben der Menschen zu gewissen Lebensidealen, sondern auch die allgemeinen
Kriterien dessen, ob ein Lebensstil gut oder schlecht, sinnvoll oder
sinnlos etc. sei. Vor
dem Hintergrund der Probation oder Apodiktion zeigt sich, dass universelles
Denken nicht nur wichtig ist, sondern sich auch auf die Einstellungen
und Vorstellungen positiv auswirken kann. Denn es hilft, sich von bestimmten
Denk- und Lebensgewohnheiten zu distanzieren und gleichzeitig für alternative,
ja noch als unbekannt erscheinende, Lebensmodelle zu öffnen, ohne seine
gewohnte und als eigene geltende Kultur zwangsläufig aufgeben oder verleugnen
zu müssen. Darauf baut die interkulturelle Philosophie ihr Prinzip auf,
um den Dialog zwischen den Völkern zwecks gegenseitiger Verständigung
über moralische, ethische, erkenntnistheoretische, metaphysische und
religiöse Fragen zu fördern.
[viii]
Sie weist allerdings insofern ein methodisches Defizit
auf, als sie nicht konzeptionell zeigt, wie Menschen aus verschiedenen
Denktraditionen zu einer Verständigung insbesondere mit Europäern verholfen
werden kann, ohne Kompromisse mit aus dem Westen stammenden Ideologien
schließen zu müssen. In Anbetracht dieses Mankos versucht die Konvergenzphilosophie
oder der Konvergentialismus, textuelle und orale Formen des Denkens
nicht nur gleichzusetzen, sondern auch methodisch zusammenzuführen.
Dabei zeigt sie, wie die Methoden der Mündlichkeit (Initiation, Inspiration
und Mediation) einerseits und die der Schriftlichkeit (Analyse, Synthese,
Dialektik und Experiment) andererseits so miteinander konvergieren können,
dass daraus Kategorien mit universeller und kulturinvarianter Valenz
abzuleiten sind, denen in jeder schriftlichen sowie mündlichen Tradition
die gleiche Bedeutung zukommt.
[ix]
In
universeller Hinsicht ist Kultur einerseits durch deskriptive Lebensformen
bestimmt, zu denen die Sitten (Konventionen, sozialen Lebensregeln),
die Gebräuche (Gewohnheiten), die gesellschaftlichen Institutionen (Erziehung,
soziale Hierarchie etc.), die Riten, die Rituale und Zeremonien gehören.
Ihnen stehen andererseits normative Lebensformen gegenüber, die sich
auf die ethischen und moralischen Einstellungen der Menschen beziehen. Normative Lebensformen weisen zudem auf das Verhältnis
von Kultur zur Philosophie hin, was insbesondere im altgriechischen
Denken nachzuweisen ist. Denn für die Griechen war Philosophie nichts
anderes als Kultur im Sinne einer normativen Lebensform. Dabei stand
im Mittelpunkt des griechischen Denkens der Mensch als animal rationale,
also als ein mit Vernunft begabtes und ausgestattetes Lebewesen, dessen
entscheidende Lebensform das bios theoretikos (das theoretische
Leben) war, das den Maßstab für alle daraus fließenden praktischen Aktivitäten
des Lebens festlegte. Der Philosophie wurde dabei die Aufgabe zugewiesen,
dem Menschen den Weg zum guten und glücklichen Leben zu weisen. Bereits
in den Werken Platons wird deutlich, dass Kultur geistig orientiert
ist, insofern als Platon sie mit dem Ideal verbindet, dem Menschen zur
"Theoria" bzw. zur philosophischen Einsicht als der
höchsten Tugend zu verhelfen. Platon lehrt dabei, nur derjenige, der
sich zur Erkenntnis der Ideen erheben könne, besitze einen philosophischen
Eros, worunter er das Streben vom Sinnlichen zum Geistigen versteht.
Damit ist der Drang des Sterblichen gemeint, sich zum Unsterblichen
aufzuschwingen, da es nach Platon ewige Ideen gibt, die als Maß des
Denkens und Handelns gelten und für das denkende und handelnde Wesen
erfassbar sind. Aristoteles geht noch weiter als Platon, indem er die
geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Menschen an konkreten Lebenszielen
orientiert. Dies wird besonders mit seinem Versuch deutlich, „den bios
theoretikos, den bios apolaustikos (Genußleben) und den bios
politikos (politisches Leben) zum Zweck der Erfassung der Einheit
von Theorie und Praxis miteinander“
[x]
zu verbinden. Dabei bezeichnet Aristoteles das Leben
der Theoria als ein solches der Muße, da die wahre Tätigkeit
des Menschen erst in Bezug auf die Polis zu begründen ist. Als
allgemeine Lebensform ist Kultur insofern bei allen Völkern Afrikas
nachweisbar, als es dort keine einzige Gesellschaft gibt, die dem Prozess
des Wandels und der Veränderung nicht unterworfen war. Den schriftlichen
Überlieferungen zufolge, lässt sich die kulturelle Entwicklung Afrikas
bis auf das antike Ägypten zurückverfolgen, dessen Geisteswelt durch
verschiedene ethische, erkenntnistheoretische und metaphysische Grundlagen
bestimmt war. Danach waren die Ägypter nicht nur Wegbereiter für die
Mathematik, Physik, Medizin und Chemie, sondern auch für die Philosophie
der griechischen und römischen Antike. Aus ihren Lehren gingen nicht
zuletzt Erkenntnisse hervor, die das christliche Mittelalter sowie das
frühe moslemische Denken entscheidend prägten. Es sei in diesem Zusammenhang
nur an Amenophis IV. (Echnaton) erinnert, dessen Ein-Gott-Lehre (Monotheismus)
den Weltreligionen (Christentum, Islam und Judentum) den Weg zum Glauben
an einen einzigen Gott gewiesen hat. Außer
den Ägyptern weisen die Inschriften auf Felsen und Gräbern, Devisen
auf Schildern, Waffen und Kleiderstücken ebenfalls auf die Existenz
von deskriptiven und normativen Lebensformen bei den Amazigh (Berber),
Garamanten, Mauren, Äthiopiern etc. hin. Darauf beziehen sich manche
afrikanischen Denker, wie Cheikh Anta Diop, Theophile Obenga, u.a.,
nicht nur um den geistigen Schatz früherer Kulturen zu erschließen,
sondern auch um die gesamte afrikanische Geistes- und Kulturgeschichte
in Assoziation mit mündlichen Quellen (gesprochenen Sprachen, Kunstwerken, Mythen, Glaubensritualen, sozialen Lebensregeln
etc.) zu rekonstruieren und dementsprechend auszulegen. Überdies hat sich die Kultur weltweit als ein Gut besonderen
Wertes erwiesen, von dem jeder Mensch immer wieder Gebrauch machen kann,
um sich nicht nur von seiner statischen Existenz in der Großnatur zu
trennen, sondern auch um die unerschöpfliche Dynamik seiner Essenz zwecks
Selbstrealisierung und Selbstvervollkommnung zu manifestieren. Denn
es gibt keinen einzigen lebensaktiven Menschen, der seine individuelle
Natur als vollkommen betrachtet oder mit ihr allgemein zufrieden ist.
Man soll daher die Kultur bei allen berechtigten Bedenken gegen sie
nicht ausschließlich negativ bewerten. Denn sie ist ein vom Menschen
selbst entfaltetes Vermögen zur geistigen und körperlichen Betätigung
zwecks Existenzsicherung. Leider wird diese Fähigkeit oft vom Menschen
selbst missbraucht, indem er künstliche der eigenen Natur sowie der
Großnatur zuwiderlaufenden Produkte hervorbringt, die er nicht mehr
bemeistern oder unter Kontrolle halten kann. Dies besagt, dass die bisherige künstliche Produktion keineswegs
der wirklichen Aufgabe der Kultur entspricht. Wenngleich sie Vorteile
mit sich bringt, steht sie jedoch gleichzeitig der Emanzipation des
Menschen zur Freiheit in Harmonie mit sich selbst sowie mit dem gesamten
Kosmos im Wege. Die Kultur kann vor diesem Hintergrund nur dann ihrem
eigenen Anspruch gerecht werden, wenn sie dem lebensaktiven Menschen
zu der Einsicht verhilft, sich stets als ein Wesen zu betrachten, das
zur immerwährenden Werteschöpfung verurteilt ist. Daher soll der Mensch
vielmehr Werte erzeugen, die ausschließlich diesem Ziel dienen. Dies
setzt voraus, dass Technik, Wirtschaft, Wissenschaft, Philosophie, Religion
etc. ebenfalls als Werte des Intellekts zur Geltung kommen, damit sie
hinfort zur Befriedigung der individuellen sowie kollektiven Bedürfnisse
der Menschen nach Freiheit, Sicherheit,
Wohlsein etc. beitragen können. Auch die Institutionen wie Familie,
Verwandtschaft, Gesellschaft, Staat und supranationale Zusammenschlüsse
sollen als Werte besonderer Qualität angesehen werden, die gewähren
müssten, dass gemeinschaftliche Bindungen weder dem Harmoniestreben
noch der individuellen Einstellung der einzelnen Menschen zum Leben
widersprechen. Von dieser These ausgehend wäre es ein großer Irrtum, Kultur
zu einer bloßen Nachahmung oder Fortsetzung einer beliebigen Tradition
zu degradieren, sonst kann man kaum eigenständige Werte hervorbringen,
die den Anforderungen des Lebens der Menschen in ihrem jeweiligen Zeitalter
genügten. Ein derartiges Verhalten wäre ohnehin widersprüchlich, denn
es würde bezeugen, dass man weder den Sinn noch die Gesetze der Überlieferungen
versteht, weshalb man sich ihnen passiv unterwirft. So bedienen sich
manche Völker der in der Vergangenheit entwickelten Techniken, ohne
ihnen ihren Wert als Technik zu verleihen, geschweige denn nach den
ihnen zugrundeliegenden ethischen, logischen und metaphysischen Prinzipien
zu fragen. Daraus folgt, dass man die durch technische Eingriffe in
die Natur bedingten Umweltschäden zwar zu Recht beklagt, statt selbst-
und verantwortungsbewusst zu handeln, indem man nach Abwägung aller
ethischen oder moralischen Bedenken entweder auf die Technik vollständig
verzichtet oder Wege zu deren Harmonierung mit der Natur sucht. Zudem
gibt es auch Menschen, die sich ihrer technischen Errungenschaften zwar
bewusst zu sein scheinen, ohne dass es ihnen gelingt, die Technik als
solche unter die wahren kulturellen Werte zu subsumieren, mangels derer
die menschliche Existenz vielleicht keinen Sinn hätte. Dies trifft nicht
zuletzt für die Religion und Wissenschaften zu, die man deshalb vielfach
zu falschen Zwecken missbraucht, weil man sie selten als Kulturgüter
besonderen Wertes ansieht. 3. Was ist Afrika kulturell? Afrika
[xi]
weist verschiedene Kulturen auf, die über Jahrtausende
für die Sicherung der menschlichen Existenz entscheidend waren. Mit
dem Eindringen der Europäer im Zeitalter des Kolonialismus ging allerdings
eine grundlegende Veränderung des afrikanischen Kulturlebens einher.
Insbesondere die Übertragung der europäischen Bildungs- und Staatssysteme
führte zu einem Wirrwarr von Lebens- und Denkstilen, die mit den tradierten
Vorstellungen von Gemeinschaft, Glauben, Arbeit etc. der Afrikaner nicht
im Einklang standen. Alle bisherigen Maßnahmen zur Autonomisierung der
Bildung, Wirtschaft, Politik etc. sind deshalb zum Scheitern verurteilt,
weil die meisten afrikanischen Eliten noch im Glauben leben, dass ihre
nativen Sprachen und Lebensformen ungeeignet seien, zeitgemäße sowie
zukunftsweisende Kulturen anzukurbeln. Die
Frage, was Afrika kulturell sei, hängt daher weniger von den Vorurteilen
von außen als von dem Bild ab, das die Afrikaner selbst von den aus
ihrem Kontinent stammenden intellektuellen, sozialen, ökonomischen,
technischen und politischen Leistungen haben und vermitteln. Denn das
kulturelle Afrika verbindet sich ausschließlich mit den von Afrika selbst
kommenden Lebensentwürfen, so in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.
Doch abgesehen von den eigenen Vorurteilen haben die Afrikaner mit den
Ressentiments von außen zu kämpfen, da man ihnen aufgrund ihrer ökonomischen
und politischen Probleme nicht nur negative Eigenschaften aller Art
zuschreibt, sondern auch das Vermögen zu intellektuellen Leistungen
sowie zur gesteigerten Wertproduktion abspricht. Doch
neben den mündlich überlieferten Lebensformen weist Afrika vielfältige
intellektuelle Werte (ethische, religiöse, moralische und metaphysische)
auf, die aus der individuellen Spekulation einzelner Denker, meist in
Konfrontation mit anderen kulturellen Erfahrungen, hervorgehen. Denn
die Begegnung mit anderen Kulturen begann bereits in der Antike und
wird bis zur Gegenwart fortgesetzt.
[xii]
Dass die Afrikaner von der Erfahrung anderer Völker
profitiert haben, wurde weder in der Antike noch von den latinistischen
Denkern wie Tertullian, Lucius Apuleius, Origines, Aurelius Augustin
etc., geschweige denn von den frühen moslemischen Gelehrten wie Averroes,
Ibn Chaldun etc. geleugnet. Auch in der Gegenwart kann kein seriöser
Denker dies bestreiten. Die umgekehrte Frage, was man von den Afrikanern
lernen kann, ist den Menschen anderer Kontinente selbst zu überlassen.
Überdies
kann man aus den mündlichen und schriftlichen Traditionen Afrikas zumindest
lernen, dass Menschen aus verschiedenen Regionen und Kulturen nicht
zufällig, sondern naturgemäß zusammenkommen, nicht jedoch um sich bloß
zu entdecken, sondern um sich gegenseitig kennen zu lernen und eventuell
einen gemeinsam sozialen Bund zwecks kollektive Selbsterhaltung zu bilden.
Leider ist die Begegnung mit anderen Völkern bislang nicht immer konfliktfrei
verlaufen, weil sowohl Afrikaner selbst als auch die aus anderen Regionen
gekommenen Menschen jeweils kulturelle Erfahrungen machten und immer
noch machen, die sie zu Bindungen an bestimmte Traditionen und Gewohnheiten
zwingen, von denen sie sich mental und emotional nur sehr schwer lösen
können. Näher besehen sind emotionale Bindungen an bestimmte Kulturen
und Traditionen nicht natürlich, sondern sozial bedingt. Sie führen
deshalb dazu, dass sich fast jeder Mensch dem Neuartigen oder Unbekannten
sowie dem noch nicht Vertrauten gegenüber allgemein zurückhaltend verhält,
wobei diese Zurückhaltung weniger mit der Angst als solcher als mit
dem persönlichen Egoismus zusammenhängt, dass man durch das vermeintlich
Neue Schaden für sein Leben erleiden könnte. Sich mit dem Neuen anzufreunden,
bedeutet für manche Menschen sodann
a priori lästiges Umgewöhnen, zu dem sie nicht immer bereit zu sein
scheinen. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass die Umstellung auf das Neue
trotz Widerständen meist gelingt. Danach verhalten sich selbst die Gegner
und Skeptiker skrupellos so, als ob sie zuvor keine Bedenken gehabt
hätten. Als aktuelle Beispiele sind der Computer und das Mobiltelefon
zu nennen, die von vielen ihrer frühen Ablehner heute reuelos genutzt
werden. Indessen geht die Akzeptanz des Neuen über Gegenstände hinaus
und spiegelt sogar die Beziehung zwischen Menschen wieder. Man denke
nur an die in vergangenen Zeiten weltweit als verfeindet geltenden Völker
(z.B. Deutsche und Franzose)
[xiii]
, denen es nach langdauernden Kriegen zum Teil gut
gelungen ist, ihre archaischen, ja primitiven, Animositäten zu transzendieren
und als Brüder, Schwester, Freunde und gemeinsame Partner zusammen zu
leben und zu arbeiten. Man braucht kein Prophet zu sein, um wieder ein
ähnlich friedliches Miteinander zwischen Afrikanern und Europäern, wie
ehemals im pharaonischen Zeitalter, in vielleicht absehbarer Zeit vorauszusagen.
Spricht man nun von der kulturellen Vielfalt Afrikas, so sind
darunter nicht die Unterschiede zwischen seinen Kulturen, sondern vielmehr
die Pluralität der Lebenserfahrungen der Afrikaner zu verstehen. Die
oft gestellten Forderungen nach
Anerkennung der afrikanischen Kulturen bedeuten mithin weder die Legitimation
noch die Verleugnung ihrer Differenz, sondern vielmehr das Ergreifen
der Chance, die diese vielfältige Geisteswelt für die Bereicherung und
Erweiterung der Werte der gesamten Menschheit bietet. Doch die afrikanischen
Lebenserfahrungen lassen sich allerdings nur in Zusammenführung aller
Wissensgebiete – von den Geschichtswissenschaften über die Geistes-
und Naturwissenschaften bis hin zu den Sozial- und Ingenieurwissenschaften
– angemessen analysieren und dokumentieren.
[xiv]
Setzt sich die Philosophie mit den mystischen und mythischen
Formen des Denkens trotz ihrer marginalen Rolle auseinander, so sollte
sie sich darauf beschränken, bestimmte Rätsel der mündlichen Überlieferungen
vom Standpunkt der Ethik, Ontologie, Logik, Metaphysik, Hermeneutik,
Ästhetik etc. zu ergründen. Es geht dabei nicht um die Frage, ob eine
beliebige afrikanische Sprache Konzepte für Zeit, Tugend, Leben, Denken,
Geist etc. aufweist, sondern vielmehr darum, ob und inwieweit jene Begriffe
abstrakt reflektiert werden. Denn Philosophie ist nicht Kultur und umgekehrt
ist Kultur nicht Philosophie, wie Placide Temples, Alexis Kagame u.a.
für Afrika postulierten
[xv]
, sie kann nur als Lebensform philosophisch interpretiert
werden.
[xvi]
Die mündlichen Philosophen haben seit der Frühzeit
beachtliche Abstraktionsleistungen erbracht, insofern sie ihre Ideen
und Lebensentwürfe mit Kategorien
verbanden, auf die sich die gegenwärtigen Schriftphilosophen beziehen,
um die Funktionsmechanismen bestimmter Zusammenhänge in der Natur und
Gesellschaft im afrikanischen Kontext zu erklären. Unter Rekurs auf
mündliche Denktraditionen lässt sich sagen, dass Kultur alles sei, was
die Menschen metaphysisch, sozial, politisch, ökonomisch, technisch
und religiös realisieren, ohne die kosmische Ordnung zu destabilisieren
oder zu zerstören. Die moderne Technik scheint allerdings diesem Anspruch nicht
adäquat gerecht zu werden. Ob dies der Grund ist, weshalb es ihr trotz
großer Verbreitung an gesellschaftlicher Legitimation mangelt? Daraus
ist jedoch nicht abzuleiten, dass die Afrikaner nur eine Technik akzeptieren
würden, die ihnen zum harmonischen Leben mit der Natur verhülfe. Wünschenswert
für die Technik wäre vielmehr, dass selbst die Ingenieurwissenschaftler
sie nicht als ein Hindernis sowohl für das Streben nach ökonomischen
Fortschritt als auch für die Verwirklichung des Lebensideals aller Menschen
betrachten. Sie sollte zu diesem Zweck der Stärkung der menschlichen
Gemeinschaft dienen, statt die Isolation, den Individualismus, die Egomanie
und die Selbstverirrung des Menschen zu fördern. 4.
Eurozentrimus und afrologische Diskurse Der
Eurozentrismus ist, wie Samir Amin unterstreicht, ein kulturalistisches
Vorurteil, welches die Ungleichheit der Völker aufgrund ihrer Kulturen
hervorhebt.
[xvii]
Mit diesem Ausdruck wird allgemein eine mentale Tendenz
verbunden, Europa für alle Lebens- und Wissensbereiche in den Mittelpunkt
zu stellen. Gleichwohl wird dabei das Universelle auf das Europäische
reduziert, das man zum alleinigen Maßstab und Kriterium der Moral, Kultur,
Religion, Philosophie, Wissenschaft etc. erhebt.
[xviii]
Dem Eurozentrismus liegt demnach das ideologische
Motiv zugrunde, den Führungs- und Absolutheitsanspruch der Europäer
bis zu den trivialen Bereichen, wie denen
des Sports, der Schönheit, der Liebe und der Sexualität zur Geltung
zu bringen. Diesem offensiven Anspruch steht eine defensive Haltung
gegenüber, die darauf abzielt, der westlichen Präponderanz in der Welt
eine herbeigeholte Legitimation zu verschaffen. Danach haben sich auch
alle nicht biologisch und kulturell mit Europäern verwandten Völker
allein nach den von Europäern erzeugten Werten zu richten. Dabei wird
Europa (einschließlich aller von Europäisch-Stämmigen geführten Länder)
mit der Welt und nicht umgekehrt,
die Welt mit Europa, identifiziert. Als
Afrologie wird die auf wissenschaftlicher Grundlage betriebene eurozentrische
Auseinandersetzung mit Afrika durch Europäer bezeichnet. Obwohl sich
die Afrologen der empirischen Erforschung verpflichtet fühlen, sind
sie weitgehend dem eurozentrischen Geist unterworfen. So beschäftigen
sie sich paradoxerweise mit der afrikanischen Geschichte oder Gesellschaft
und behaupten zugleich, Afrika habe immobile Traditionen ohne Kulturen
und Wissenschaften. Von der Afrologie werden allerdings alle Wissenschaftler
ausgenommen, die Afrika nicht als Sonderfall, sondern als Teil der Weltgeschichte
und -kultur betrachten. Allgemein
fußt die Afrologie auf dem Prinzip eines Afrika-Spezialistentums unter
Ausschluss sowohl der Afrikaner als auch der europäischen Universalisten
und berührt so alle mit Afrika befassten Disziplinen. Sie benutzt generell
Quellen, die in Afrika entweder unbekannt oder umstritten sind. In ihren
Darstellungen wird deshalb stets das Wirkliche vom Imaginären übertroffen,
weil man selten die Realität als solche beschreibt, sondern meist selbst
erdachte Bilder negativer Prägung auf Afrika projiziert. Die Extrapolationen
der Afrologen hängen damit zusammen, dass sie sich ausschließlich dem
unkritischen Publikum in Europa zuwenden, das gern Negatives aus anderen
Kontinenten erfährt. Auf diese Weise wird die zuvor monierte Desinformationsmilitanz
weiter gefördert. Im
Ganzen weist die Afrologie ein ethisches und erkenntnistheoretisches
Defizit auf. In ethischer Hinsicht fehlt es ihr offenbar an objektiven
Maßstäben, Normen und Regeln für ihre Tätigkeit. Solche Regelsysteme
sind insbesondere beim Umgang mit anderen Kulturen unabdingbar. Das
Eindringen in andere Lebenswelten erfordert vor allem ein hohes Maß
an Sensibilität und Bescheidenheit. Man kann sich nicht aus Hass oder
Rachsucht skrupellos mit einer anderen Geisteswelt auseinandersetzen,
weil man Probleme mit der eigenen Geschichte und Identität hat. Das
erkenntnistheoretische Defizit äußert sich dadurch, dass die Afrologie
das Prinzip der Objektivität wissenschaftlichen Arbeitens weitgehend
missachtet. Schließlich propagieren afrologische Diskurse einen pseudowissenschaftlichen
Humanismus, dem das ideologische Motiv zugrunde liegt, die Überlegenheit
der westlichen Zivilisation weltweit theoretisch zu untermauern.
[xix]
Damit können sie weder dem wissenschaftlichen Fortschritt
dienen noch zum Aufbau eines europäischen Selbstbewusstseins beitragen.
5.
Typologie der Afrologie
[xx]
Zum
besseren Verstehen der Afrologie muss man zwischen Afrographie, Afrophilie
und Afrophobie unterscheiden. A.) Die
Afrographie (Das Schreiben über Afrika). Die Afrographie ist durch die
Tendenz geprägt, alle Berichte einschließlich der Lügen über Afrika
und Afrikaner skrupellos zu veröffentlichen. Die Afrographen haben kein
besonderes wissenschaftliches Motiv, schreiben daher meist entweder
um der Reputation oder um der Afromanie (pessimistischen Afro-Nostalgie)
willen; sie befürchten deshalb keine Rezensionen und haben keinerlei
Sensibilität für die Menschen in Afrika. Vertreter der Afrographie sind
(a) Journalisten, die vielleicht nur einmal in Afrika waren und nicht
mehr wagen, nach Afrika zu reisen, (b) opportunistische Politiker im
Ruhestand und (c) vergreiste unbekannte Wissenschaftler ohne besonders
publizistische Kompetenz.. C.) Die Afrophoben. Es handelt sich bei dieser Kategorie
um entschiedene, geschworene Afrikafeinde, die nicht nur an der geistigen
Maturität der Afrikaner zweifeln, sondern auch stets dem progressiven
europäischen Denken über Afrika skeptisch gegenüberstehen. Bewusst geben
sie immer ein negatives Geschichts- und Gegenwartsbild von Afrika, um
zu unterstellen, dass alle Bemühungen um eine Zukunft für Afrika zwecklos
seien. D.
Die philanthropischen Universalisten. Es sind Humanisten und Kosmopoliten,
die nicht nur in eurozentrischen Kategorien denken, sondern auch wissenschaftlich,
beruflich und geschäftlich keinen prinzipiellen Kulturunterschied zwischen
Afrika und Europa hervorheben. Sie haben eine besonders positive Einstellung
zu Afrikanerinnen und Afrikanern; sie begrüßen jeden geistigen Impuls
aus Afrika. Sie sind leider in Europa nicht besonders geschätzt. 6.
Der afrozentrische Diskurs Bei
aller Kritik am Eurozentrismus sollte man allerdings auch auf den Afrozentrismus
(einschließlich des afrikanischen Arabozentrismus) hinweisen, der ebenfalls
polemisch und ideologisch ist und daher keine realistische Alternative
zum eurozentrischen Denken darstellt. Der Afrozentrismus beruht auf
der Annahme, dass nur biologische Afrikaner, wenn auch sie nie in Afrika
waren oder die dortigen Lebensweisen nicht kennen, berufen sind, für
Afrika zu sprechen. Dabei sind drei Kategorien von Afrozentristen zu
unterscheiden: A.)
Die Okzidentophilen (Abendlandsfreunde) Der
okzidentophile Diskurs wird durch Afrikaner vertreten, die unter starkem
Einfluss der westlichen Kultur denken und deshalb sich schwer tun, die
Europäer zu kritisieren. Sie lieben aber nicht die Europäer, sondern
haben lediglich ihre Denk- und Lebensstile assimiliert. Meist leben
sie in Europa oder Nordamerika wie geistige Exilanten ohne eigenes kulturelles
Bewusstsein. Ihre Bücher werden deshalb der entfremdeten Literatur zugeordnet.
In Afrika verwerfen sie die einheimischen Traditionen. Sowohl in ihrem
Verhalten als auch in ihren Veröffentlichungen benutzen sie stets konziliante
Töne. Die Okzidentophilen setzten sich meist für eine einseitige Integration
der Afrikaner in das westliche System ein. B.)
Die Okzidentophoben. (Abendlandsgegner). Dazu gehören die Okzidentopathen
sowie die revanchistischen Okzidentophoben, die sich zum Teil aus Neid
auf die Leistungen der Europäer als Traditionsapologeten profilieren
wollen, ohne die afrikanischen Kulturen jedoch vehement zu verteidigen.
Im Kampf gegen den Eurozentrismus mutierten sie zu selbsternannten Anwälten
Afrikas. Die Okzidentopathen sind Amerikaner, Asiaten und Europäer afrikanischer
Abstammung, die sich aus historischen Gründen um die Pflege und Erhaltung
ihrer geistigen Verbindung mit Afrika bemühen. Ihr Denken ist allerdings
meist von einem imaginären Afrika geprägt, das in seiner dargestellten
Form nicht existiert. Ursache dafür ist die rassische Diskriminierung
durch die Europäisch-Stämmigen, denen man zeigen will, dass man auch
auf sein afrikanisches Mutterland stolz sein kann. Generell ist ihre
Literatur durch permanente Attacken gegen den „weißen“ Dominanzanspruch
vor allem in Philosophie, Technik und Wissenschaft geprägt. Vorherrschendes
Thema ist der Rassismus. C.)
Die Protoafrikaner. Dazu gehören Afrikaner, die in Afrika lebend, den
Anspruch erheben, das authentisch afrikanische Denken zu repräsentieren.
Sie bekämpfen nicht nur die Auslandsafrikaner
[xxi]
, sondern auch sich selbst gegenseitig und können
daher selten einheitliche Positionen zu Sachfragen vertreten. Sie kooperieren
nur mit Europäern und Auslandsafrikanern, wenn sie durch ihre Vermittlung
oder auf ihre Einladung nach Europa reisen können. Abgesehen von ihren
ökonomischen Sorgen stehen sie nicht, wie die Auslandsafrikaner, unter
dem Druck der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Sie arbeiten etwas
freier, in dem Sinne, dass sie ihre Themen ohne fremde Impulse selbst
bestimmen oder ihre Bücher ohne den Einfluss von Großverlagen verfassen
können. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb ihre Werke in Europa
nicht ernst genommen werden. D.)
Die philanthropischen Universalisten. Es sind Afrikaner mit einem universellem
Menschenbild. Sie kämpfen durch publizistische und
künstlerische Leistungen nicht nur um die Verwirklichung dieses
Ideals, sondern auch um die Verbesserung des negativen Bildes von Afrika
in Europa sowie Europas bei Afrikanern. Ihr Prinzip ist, eine ethno-
und kulturtranszendente Loyalität zu erreichen, die verlangt, dass die
Förderung der afrikanischen Identität mit dem Respekt vor dem Selbstverständnis
der Europäer einhergeht. Durch ausgewogene, sachliche und fundierte
Informationen wenden sie sich weltweit den offenen, aber auch kritischen
Lesern zu, um ihr Wissen mit ihnen zu teilen. Schließlich arbeiten sie
an Konzepten für die gegenseitige Achtung und Anerkennung wie auch für
die Realisierung von Liebe, Verständigung und Frieden zwischen den Völkern
der Welt. 7. Schlussbetrachtung. Die bisherigen Debatten über Afrika im Westen lenken stets
von den historisch-fundamentalen Konflikten ab, die manche Europäer
mit diesem Kontinent haben. In diesem Artikel werden daher nur die am
Dialog, Erfahrungs- und Ideenaustausch mit Afrikanern interessierten
Europäer angesprochen, die bislang fast nur über Mythen, Kriege, Aids,
Hunger, Militärdiktaturen und sonstige soziale, politische und ökonomische
Probleme in Afrika erfahren. Ihnen fehlt dennoch ein wertneutrales Wissen
über das wahre Kulturleben sowie die dem Denken und Handeln der Afrikaner
zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten. Diese Wissenslücke wird sich nicht schließen lassen, solange
wissenschaftliche Diskurse über die Vergangenheit und die Gegenwart
Afrikas weiter mit ethnozentrischen Metaphern operieren werden. Eurozentrische
und afrozentrische Positionen mögen verschieden sein, sind aber beide
polemisch und ideologisch begründet und können daher zu keinem produktiven
und zukunftsweisenden Wissen in und über Afrika beitragen. Um aber zu
einem sinnvollen Kulturdialog zwischen Europäern und Afrikanern zu gelangen,
müssten sich insbesondere alle mit Afrika befassten Wissenschaftler
dem Prinzip des philanthropischen Universalismus verpflichten, indem
sie den ethnozentrischen Geist transzendieren sowie den afrikanischen
Kontinent hinfort als Teil der Menschheit betrachten. Man muss Europäern
und Afrikanern helfen, aufeinander zuzugehen und ihre Erfahrungen auszutauschen.
So können sie gemeinsam zu höherer Erkenntnis gelangen, die der ganzen
Menschheit nutzt. Kurzbiographie München promovierte er 1992 in Politikwissenschaft in Augsburg und 1995 in Philosophie in München. Er lehrte in Frankfurt am Main, Aachen sowie an allen dreier Berliner Universitäten. Seit seiner Habilitation 2004 lehrt er interkulturelle Philosophie an der technischen Universität Berlin. Er ist Herausgeber und Mitautor des Afrika-Lexikons, des wohl wichtigsten deutschsprachigen Nachschlagewerkes über allgemeine Fragen Afrikas sowie Autor zahlreicher Bücher. [i] Dieser Artikel geht auf eine Ringvorlesung am 28.4.2005 an der Universität Marburg sowie einen Vortrag bei der Gesellschaft für Afrikanische Philosophie in Berlin zurück. Einige Aspekte wurden unter Berücksichtigung der Anregungen und Diskussionen überarbeitet und präzisiert. [ii] Vgl. M. Towa: Die Aktualität der afrikanischen Philosophie, in: F.M. Wimmer (Hrsg.): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika, Wien 1988, S. 55-66. [iii] Domenico Losurdo gehört zu den wenigen mutigen Philosophen der Gegenwart, die europäische Selbstkritik wagen. Vgl. D. Losurdo: Selbstbewusstsein, falsches Bewusstsein, Selbstkritik des Abendlandes, in: Das geistige Erbe Europas, hrsg. von Manfred Buhr, Napoli 1994, S.733-770. [iv] Die Forderung von Jürgen Habermas, die Menschen müssten kommunikativ handeln und dazu eine gemeinsame Sprache sprechen, die jeder versteht, ist zwar richtig. Doch Habermas hätte diese These vertiefen müssen, indem er zeigt, wie die Europäer universelle Verständigung aufnehmen können, ohne ihre Kultur zur Bedingung für den Universalismus zu erheben. Einzelheiten bei J. Habermas: Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, in ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, s. 153-186.; ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt 1996.
[v]
Siehe dazu Michael Fischer: Les perspectives
d’avenir de l’Europe, in: Manfred Buhr und Xavier Tilliette (Hrsg.) :
Penser européen – qu’est-ce que cela veut dire ?, Lisbonne :
Cosmos 199), S.27-40.
[vi]
Vgl. u.a. P.-A. Taguieff: La force du préjugé.
Essai sur le racisme et ses doubles, Paris 1987 : E. Balibar/I.
Wallerstein : Race, nation, classe. Les identités ambigües, Paris
1988. [vii] Vgl. Jacob E. Mabe : Die Kulturentwicklung des Menschen nach Jean-Jacques Rousseau in ihrem Bezug auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Afrika., Stuttgart 1996, S. 43 ff. [viii] Siehe u.a. H. Kimmerle: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, 1. Aufl. Hamburg 2002; F. M. Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, Wien 2004.
[ix]
Einzelheiten bei J.E. Mabe: Mündliche und schriftliche
Formen philosophischen Denkens in Afrika. Grundzüge einer Konvergenzphilosophie,
Frankfurt/M. u..a. 2005.
[x]
Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, a.a.O.,
Buch I, 1-8; ders.: Politik, übers. u. hrsg. v. O. Gigon, 3. Auflage,
München 1978, Buch VII, 3. 1325 b. [xi] Afrika besteht politisch aus 56 Staaten und soziologisch aus mehr aus 30.000 Gesellschaften mit jeweils eigener Kultur. So sind alle Länder Afrikas de facto multikulturelle Gesellschaften oder multiethnische Staaten. Doch
[xii]
Zum Thema „interkultureller Dialog in der Antike“
siehe Th. Obenga: L’Egypte,
la Grèce et l’Ecole d’Alexandrie. Histoire interculturelle dans l’antiquité.
Aux sources égyptiennes de la philosophie grecque, Paris 2005.
[xiii]
Vgl. Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog
anlässlich der Verleihung der Goethe-Medaille am 22. März
1998 in Weimar. Zitiert nach D. Senghaas: Zivilisierung wider Willen.
Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst, 1. Aufl. 1998, S. 221. [xiv] In der Konsequenz dieser Erkenntnis hat der Verfasser die erste gesamtafrikanische Enzyklopädie in deutscher Sprache herausgegeben. Siehe J.E. Mabe (Hrsg.): Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1000 Stichwörtern, Stuttgart und Wuppertal 2001 (Sonderausgabe 2004). Für die Bundeszentrale für politische Bildung gibt es zudem einen kleinen Band. Vgl. J. E. Mabe (Hrsg.): Das Kleine Afrika-Lexikon. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Bonn 2002 und 2004.
[xv]
P. Temples:
La Philosophie bantoue, Elisabethville 1945; A. Kagame : La philosophie
bantou-comparée, Paris 1976 ; J. S. Mbiti : African Religion
and Philosophy, London 1969.
[xvi]
Siehe
u.a. K. Gyekye: African Cultural Values, Philadelphia und Accra 1996;
K. Wiredu: Philosophy and an African Culture, London 1980; H. Odera
Oruka (Hrs.). Indigenous Thinkers an Modern Debate on African Philosophy,
Leiden/Nairobi 1990. [xvii] Einzelheiten bei S. Amin: L’Eurocentrisme. Critique d’une idéologie, Paris 1988; ders.: Für ein nicht-amerikanisches 21. Jahrhundert. Der in die Jahre gekommene Kapitalismus, Hamburg 2001.
[xviii]
Vgl. J.E.Mabe,
Mündliche und schriftliche Formen philosophischen Denkens, a.a.O.,
S. 24 ff; ders: African Philosophy and the Conflict between Eurocentrism
and Afrocentrism, in Reason, Universality, and History: Standpoints
on the European Intellectual Tradition, hrsg. von M. Buhr und D. Moggach, New York, Ottawa and Toronto
2004, S. 89-100.
[xix]
Siehe auch Th. Obenga: Le sens de la lutte contre l’Africanisme
eurocentriste, Paris 2001. [xx] Es handelt sich hierbei um leicht retuschierte und vertiefte Analysen des bereits erschienenen Buches des Verfassers. Siehe J.E. Mabe: Mündliche und schriftliche Formen, a.a.O., S. 30. [xxi] Vgl. O. Kane: Les intellectuels Africains non Européens, Dakar 2000. |